Sonstiges
01.06.2020
Homestory Kévin Estre: Die zwei Seiten eines Vollblut-Rennfahrers
Das richtige Fleckchen Erde ist ausgeguckt, gemeinsam mit Architekten werden erste Entwürfe besprochen. „Wenn alles gut läuft, dann startet schon bald der Bau“, frohlockt der amtierende Langstrecken-Weltmeister. Alles wird vorbereitet für die Ankunft der vierten Generation. „Wir bekommen einen Jungen, also ist der Gedanke naheliegend, dass nach meinem Opa, meinem Vater und mir ein weiterer Racer heranwachsen könnte.“
Motorsport ist in der Familie Estre ein Kernthema. Kévins Großvater war im Kartsport aktiv, sein Vater fuhr neben Kart auch Formelfahrzeuge. Noch heute betreibt Jean Claude Estre in Frankreich das Team Formula Motorsport. Er arbeitete unter anderem mit späteren Formel-1-Stars wie Nico Rosberg, Jean-Eric Vergne oder Romain Grosjean zusammen. „Nachdem ich in Frankreich mein Abitur gemacht hatte, habe ich rund fünf Jahre nebenbei im Team unserer Familie mitgearbeitet. Das war eine ganz wichtige Phase“, sagt Kévin Estre. „Ich habe meinen Lkw-Führerschein gemacht, war im Team Truckie, Mechaniker, Felgen-Putzer und Mädchen für alles in Personalunion. So habe ich Einblicke in alle Abläufe bekommen. Das hilft mir noch heute, wenn es um die Zusammenarbeit im Team geht“, erklärt er. Nicht nur im Elternhaus ist Motorsport das große Topthema, sondern oftmals auch in den Gesprächen mit Ehefrau Carolin.
„Ich habe Caro vor zehn Jahren kennengelernt. Damals bin ich für das Team Mühlner gefahren, sie hat dort gearbeitet. Da hat es gefunkt“, lacht Estre. Nach zehn Jahren harmonischer Beziehung soll im Juli das Glück perfekt werden. Schon ohne eigenen Nachwuchs hatte das Ehepaar Estre das Thema Kind häufig auf der Tagesordnung. „Wir engagieren uns wann immer möglich im sozialen Bereich“, erklärt der Sieger der 24 Stunden von Spa-Francorchamps 2019. „Ich bin Schirmherr einer Stiftung in Frankreich, die kranke Kinder unterstützt. Jedes Jahr veranstalten wir Trackdays. Die Einnahmen daraus gehen an diese Initiative. Das Wohl der Kinder liegt uns beiden sehr am Herzen.“ Seine Schilderungen strahlen Wärme und Herzlichkeit aus. Es ist die sanfte Seite von Kévin Estre, die abseits des Rennwagencockpits jederzeit zutage tritt. Am Steuer des Porsche 911 RSR oder des 911 GT3 R zeigt er indes sein zweites Gesicht.
„Ich schalte da komplett um, ganz automatisch“, meint Estre. „Wir hatten in der Familie keine großen finanziellen Möglichkeiten. Daher musste ich mir in meiner Karriere alles hart erarbeiten. Auf dem Weg zum Werksfahrer musste ich immer wieder beweisen, dass ich besser bin als andere. Und das hört mit der Vertragsunterschrift nicht auf. Ich gebe im Auto immer alles. Mein aggressiver Stil ist ein wenig zu meinem Markenzeichen geworden. Keine Absicht. So bin ich halt“, schmunzelt jener Kévin Estre, der unter anderem im vergangenen Jahr mit einem sehenswerten Überholmanöver über das Gras beim 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring für Begeisterung sorgte. „Nehme ich den Helm ab, bin ich wieder ganz handzahm“, scherzt er.
Die innere Ruhe und Gelassenheit gibt ihm unter anderem das entspannte Leben auf dem Lande im Dreiländereck nahe des Bodensees. Estre, im Oktober 1988 in der französischen Großstadt Lyon geboren, wuchs acht Jahre lang in der Hektik einer Zwei-Millionen-Einwohner-Metropole auf. Dann zog die Familie ins Grüne. „Und genau dort gehöre ich hin“, meint der 1,84 Meter große Franzose, der fließend Deutsch spricht. In Höchst hat Estre eine neue Heimat gefunden – mit Familie und Freunden. „Es wohnen viele Rennfahrer in der Umgebung. Marco Holzer ist in direkter Nachbarschaft. Im Umkreis von zehn Kilometern sind tolle Beziehungen entstanden. Wir sind eng mit René Rast und dessen Lebensgefährtin Diana befreundet und treffen uns häufiger. Auch Timo Scheider sehe ich manchmal“, sagt der Porsche-Werkspilot.
Bei beiden Kollegen, die in der DTM jeweils zwei Titel gewannen, kann sich Estre bereits jetzt einige Tipps bezüglich des „Vater-Werdens“ holen. Der Countdown läuft. In nicht einmal zwei Monaten wird der Junior das Licht der Welt erblicken. Bis dahin stehen die weiteren Planungen der Familie im Zeichen der Vorbereitungen auf die Rückkehr zum normalen Rennbetrieb. „Ich halte mich mit Laufen fit, fahre oft auf dem Rad, wandere und spiele Tennis – ich bin sportlich breit aufgestellt und im Gegensatz zu manchen meiner Kollegen nicht auf eine Disziplin fokussiert“, sagt Estre. Und noch etwas unterscheidet den smarten Franzosen von anderen Werksfahrern. „Ich besitze keinen Simulator“, erklärt er. „Vor der Coronavirus-Pandemie fehlte mir die Zeit für so etwas. Ich habe kein entsprechendes Equipment. Es fehlt an Platz dafür. Ich müsste den Simulator mitten im Wohnzimmer aufbauen – nicht gerade einladend. Ich warte darauf, dass ich endlich wieder ins reale Auto steigen darf. Die Sehnsucht ist groß!“