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24h Le Mans
20.08.2021

So wird der Porsche 911 RSR bei den 24 Stunden von Le Mans belastet

24 Stunden von Le Mans. Sonntag, 20. September 2020. Es ist 14:07 Uhr. Werksfahrer Laurens Vanthoor biegt mit dem Porsche 911 RSR in die Boxengasse ab. Ein letztes Mal füllt das Einsatzteam Manthey frisches Benzin in den Tank des rund 515 PS starken Rennfahrzeugs mit der Startnummer 92. Die Scheiben werden noch einmal gereinigt, die Trinkflasche für den Fahrer ausgetauscht. Nach wenigen Sekunden senkt sich das Auto, der Sechszylinder-Boxer erwacht zum Leben und brüllt die Mechaniker beim Verlassen des Standplatzes lautstark an. Vanthoor hetzt wieder hinaus auf den 13,626 Kilometer langen Rundkurs. Vollgas in Richtung Dunlop-Bogen, mit viel Schwung über die Randsteine der folgenden Kurven, maximale Beschleunigung durch Tertre Rouge der ersten Schikane entgegen, dann brutal in die Bremsen – immer und immer wieder. Der Porsche 911 RSR wird in Le Mans 24 Stunden lang extrem belastet, ohne Rücksicht auf die stark strapazierte Technik.

Während sich bei den 24 Stunden von Le Mans jeweils drei Piloten die enorm anstrengende Arbeit im Cockpit teilen, muss das Fahrzeug die Qualen beim härtesten Langstreckenrennen der Welt ganz allein ertragen. Im intensiven Wettbewerb kommen Menschen und vor allem Maschinen an die absoluten Grenzen. „Natürlich ist unser Porsche 911 RSR darauf ausgelegt – wir haben dieses Fahrzeug für extreme Dauerläufe entwickelt“, erläutert Alexander Stehlig, Einsatzleiter FIA WEC. „Die Komponenten des Autos werden im Hinblick auf diese Herausforderungen entworfen und ausgiebig getestet. Wir machen viele Versuche auf Prüfständen, testen das Gesamtpaket bei zahlreichen Probe- und Entwicklungsfahrten. In der Theorie sollte ein 24-Stunden-Rennen kein Problem sein. Aber die Praxis sieht manchmal anders aus.“

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„Unsere Autos müssen über die Renndistanz jeweils rund 20.000 Gangwechsel erledigen“, schildert Romain Gineste, leitender Performance-Ingenieur im Porsche GT Team. „Nicht vergessen: Das Rennen ist nicht alles – das Getriebe muss in allen Trainings und im Qualifying schließlich auch schon seinen Dienst verrichten.“ Im Gegensatz zu früheren Jahren, als alle Teams den Freitag der Le-Mans-Woche für den Einbau eines komplett neuen Antriebsstrangs nutzten, bleiben die Komponenten seit 2018 während der gesamten Rennwoche im Fahrzeug. „Das war für uns eine Abwägung“, sagt Alexander Stehlig, „weil wir jederzeit auch die Belastung der Mannschaft im Auge behalten müssen. Wir tauschen die Teile nach dem Vortest und lassen sie bis zum Ende des Events im Auto. Dadurch können sich die Mechaniker am Freitag vor dem Rennen, in dem sie über sehr lange Zeit Höchstleistungen bringen müssen, auf das Wesentliche konzentrieren. Das hat sich für uns absolut bewährt. Viele andere Teams machen das genauso.“

Dieser Einsatzplan bedeutet beispielsweise für das Getriebe im Porsche 911 RSR: Fast weitere 7.000 Gangwechsel müssen jederzeit tadellos funktionieren – und das in Windeseile. Ein Schaltvorgang dauert beim sequenziellen Sechsganggetriebe des Neunelfers nur 15 Millisekunden. Das hohe Drehmoment des 4,2 Liter großen Boxermotors wuchtet den Rennwagen aus Weissach somit nahezu ohne Unterbrechung nach vorn. „Unser aktueller 911 RSR nutzt – anders als der Vorgänger – kein pneumatisches System für die Gangwechsel, sondern ein elektromechanisches. Das funktioniert präziser und vor allem schneller“, erklärt Alexander Stehlig. „In dieser Disziplin sind wir richtig, richtig gut“, schmunzelt Romain Gineste: Jeder der rund 28 Millionen Zündvorgänge im Sechszylinderaggregat soll während des 24-Stunden-Rennens in maximalen Vortrieb umgesetzt werden.

Wer kürzer bremst, ist länger schnell: Vor diesem Hintergrund hat Porsche die Bremsanlage des Porsche 911 RSR entwickelt. Das System steht in Le Mans an 13 Stellen pro Runde im Fokus. Immer wieder werfen die Fahrer vor engen Passagen wie beispielsweise den beiden Schikanen auf der berühmten Hunaudières-Geraden oder vor der Mulsanne-Kurve brutal den Anker. Insgesamt treten sie dabei im Rennen rund 4.000 Mal mit großer Wucht auf das linke Pedal. Die Temperaturen von Belägen und Stahl-Bremsscheiben schnellen in diesen Momenten auf über 400 Grad Celsius in die Höhe. Eine ausgeklügelte Belüftung kühlt das System innerhalb weniger Meter wieder ab. „Die Bremsen erreichen im 24-Stunden-Rennen das absolute Limit. Die Systeme sind mittlerweile derart gut, dass wir in Le Mans mit einem Bremsservice zurechtkommen“, berichtet Alexander Stehlig. Der erfahrene Ingenieur mag keine Risiken eingehen: „Wir gehen immer auf Nummer sicher und wechseln die Bremse mindestens an der Vorderachse. Das kostet uns nicht einmal eine Minute, weil die Teile komplett vormontiert sind. Das geht beispielsweise in einer Safety-Car-Phase ohne große Konsequenzen für die Position im Wettbewerb.“

Das aufgrund der Balance-of-Performance (BoP) auf rund 515 PS gebändigte Sechszylinder-Kraftwerk im 911 RSR ist nicht der einzige Boxer im Auto. Die Dämpfer müssen im Verlauf der 24 Stunden von Le Mans zahlreiche harte Schläge einstecken, ohne dabei sichtbare Cuts davonzutragen. Tausende Erschütterungen muss die Kinematik aufgrund der Fahrbahn-Unebenheiten klaglos schlucken. „20 Mal pro Runde wird das System beim Überfahren von Randsteinen maximal komprimiert. In gleicher Häufigkeit federt das Auto wieder aus. Insgesamt fast 7.000 Volltreffer kassiert das Dämpfersystem über die gesamte Renndistanz“, nennt Romain Gineste weitere beeindruckende Zahlen. Einen Teil der auftretenden Horizontalkräfte absorbieren die Rennreifen von Michelin, von denen bei durchweg trockenen Bedingungen nur 60 im Verlauf der harten 24 Stunden zum Einsatz kommen dürfen. Am Ende dieses brachialen Dauerlaufs, wenn alle Komponenten wir gewünscht ihren Dienst verrichtet haben, erfolgt im Optimalfall die verdiente Belohnung: große Party in Le Mans.
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