Seitdem McLaren 1966 unter der Leitung und unermüdlichen Anstrengung des gleichnamigen Gründers Bruce in den Sport eingetreten ist, war sein Erfolg geradezu atemberaubend. Fünf glänzende Jahrzehnte haben unzählige Siege, Pole-Positionen und Podestplätze gebracht, ganz zu schweigen von acht Konstrukteursweltmeisterschaften. Darüber hinaus haben sich einige der besten Fahrer des Sports mit dem Team einen Namen gemacht, darunter Emerson Fittipaldi, Ayrton Senna, Mika Hakkinen und Lewis Hamilton. Doch McLaren kennt auch Durststrecken. Die scheinen mit Andreas Seidl ein Ende zu haben. Seitdem der Teamchef im Mai 2019 von den Briten geholt wurde, blenden sie die Führenden bedrohlich im Rückspiegel.
Vielen Dank für Ihre Zeit. Sie sind seit Mai 2019 Teamchef des McLaren Formel 1 Team. Müssen Sie sich manchmal selbst kneifen, um das zu realisieren?
Andreas Seidl: „Ich hatte schon immer das Ziel, große Motorsportoperationen zu leiten, und das bei McLaren ist einfach unbeschreiblich. Schon als Kind war ich ein großer Motorsport- und Formel-1-Fan und bin mit Michael Schumacher groß geworden. Seit dieser Zeit war es mein klares Ziel, einmal in der Formel 1 zu arbeiten. Diesen Traum konnte ich direkt nach dem Maschinenbaustudium verwirklichen. Seitdem habe ich den Motorsport nicht mehr verlassen. Es ist definitiv mein Traumjob, der mich jeden morgen aus dem Bett treibt.“
In den vergangenen Jahren wurden viele Versuche unternommen, die Formel 1 zu erneuern und der Zeit anzupassen. Wo ist es in Ihren Augen am besten gelungen?
„Die Formel 1 ist nach wie vor die Königsklasse im Motorsport, mit den schnellsten Autos und den besten Fahrern. Mensch und Material bewegen sich am absoluten Limit. Weltweit ist die Begeisterung für die Formel 1 ungebrochen. Mit den neuen technischen, sportlichen und erstmalig auch finanziellen Regularien, die in den nächsten beiden Jahren eingeführt werden, gelten für alle Teams neue Spielregeln. Das Feld soll wieder näher zusammenrücken, Fahrer und Fahrzeug stehen im Mittelpunkt mit einem komplett neu entwickelten Auto. Budgets werden limitiert, und auch Nachhaltigkeit spielt eine Rolle. Das bedeutet für alle Teams eine neue Herausforderung. Aber die Änderungen gehen absolut in die richtige Richtung, um unsere Fans auch zukünftig begeistern und vor allem mittel- und langfristig wettbewerbsfähig und nachhaltig Formel 1 betreiben zu können.“
Wenn ich der Boss der Formel 1 wäre, würde ich als Erstes ...
„Ich würde den Teams viel mehr Preisgeld geben (lacht).“
Sie kamen mit Vorschusslorbeeren zurück zur F1 und haben in der ersten Saison bewiesen, dass Sie McLaren nach vorne bringen können. Was machen Sie anders als Ihre Vorgänger?
„Als ich im Mai vergangenen Jahres gestartet habe, war das Team, dank der Maßnahmen, die Zak Brown schon 2018 initiiert hat, wieder auf dem Weg nach oben. Der große Schritt, den das Team über den Winter gemacht hat, erfolgte vor meiner Zeit. Das Auto war schon ab den Wintertestfahrten 2019 deutlich besser als sein Vorgänger, und somit waren auch die ersten guten Ergebnisse da. Es war wieder eine positivere Einstellung im Team erkennbar. Das hat es für unseren neuen Technikdirektor James Key und mich einfacher gemacht, in Ruhe zu analysieren, wo noch Schwächen vorhanden sind. McLaren ist ein Superteam mit einer einzigartigen Historie in der Formel 1, extrem talentierten Mitarbeitern und enormer Leidenschaft. Was in den letzten Jahren verlorengegangen war, sind eine klare Führungsstruktur und eine klare Richtung. Ich habe gleich zu Beginn als meine erste Amtshandlung eine klare Struktur umgesetzt. Mit meinen drei großen Bereichen Technische Entwicklung, Produktion und Renneinsatz sind die Verantwortlichkeiten klar definiert und für jeden verständlich. Das ist enorm wichtig für die Zusammenarbeit und den Informationsfluss. Motorsport ist immer eine Teamleistung. Für mich ist ganz entscheidend, dass jeder Mitarbeiter jeden Tag mit Freude zur Arbeit kommt, weil er versteht, wie wichtig seine tägliche Arbeit zum Gesamterfolg beiträgt. Bei mir werden Themen offen angesprochen, kein Fingerzeigen. Fehler passieren, und wir lernen daraus. Der Anspruch ist, immer auf alles bestmöglich vorbereitet zu sein, aber im Motorsport muss man auch Risiken eingehen, um das Maximum herauszuholen. Jeder bekommt Unterstützung und die Freiheiten, die er braucht, um seinen Job bestmöglich zu erfüllen.“
Die Fahrzeuge stehen bei den Fahrern schwer unter Kritik. Sie werden immer schwerer. Wie sieht Ihr perfektes Auto aus?
„Man darf nicht vergessen, dass die Sicherheit der Fahrzeuge über die Jahre immer mehr zugenommen hat. Das ist wichtig und gut so. Das geht natürlich auch zulasten des Gewichts; trotzdem haben wir jedes Jahr schnellere Rundenzeiten. Für mich ist die Technologie, die in einem Auto steckt, mit das Interessanteste. Die Details und die akribische Vogehensweise bei der Entwicklung und der Umsetzung an der Strecke faszinieren mich daran am meisten.“
Wie profitieren die Fans und ihr Erlebnis Motorsport davon?
„Wenn man die vergangene Saison betrachtet, haben wir viele großartige Zweikämpfe auf der Strecke gesehen, spannende Rennen und Rennsieger aus drei verschiedenen Teams. Das größte Problem aus meiner Sicht ist aktuell der große Abstand zwischen den drei Topteams und dem Mittelfeld. Mit den neuen Regularien ab 2021 wird genau dieses Thema angegegangen, insbesondere durch die erstmalige Einführung der Budgetlimitierung. Das bedeutet eine neue Ära für die Formel 1, das Ziel für die Zukunft ist klar definiert.“
E-Technologie wird im Rennsport immer populärer. Warum glauben Sie an die Zukunft der Formel 1?
„Das Thema Nachhaltigkeit ist auch in der Formel 1 angekommen und wurde klar in der für die nächsten Jahre geltenden Strategie verankert. Alle Teams arbeiten eng mit den Veranstaltern der Formel 1 zusammen, um beispielsweise den gesamten CO2-Ausstoß der Formel 1 zu reduzieren. Es geht hier nicht nur um ein gewisses Umweltbewusstsein, sondern es betrifft alle Aspekte dieses Sports. Es geht unter anderem um die Art und Weise, wie nachhaltig wir unsere Firmen betreiben, wie die Logistik zu den Rennen aussieht beziehungsweise wie die Veranstaltungen durchgeführt werden. Zusätzlich spielen der Motorsport im Allgemeinen und im Besonderen die Formel 1 als Königsklasse eine Vorreiterrolle, wenn es darum geht, neue Technologien zu entwickeln, die im Anschluss auch für die Allgemeinheit relevant sind. Zum Beispiel war Motorsport schon immer das Prüflabor für Leichtbau oder neue Antriebstechnologien. Unser fast 1.000 PS starker Formel-1-Antrieb arbeitet dank Bremsenergie- und Abgaseenergierückgewinnung extrem effizient. Das sind Technologien, welche in Serienfahrzeugen zum Einsatz kommen. Deshalb glaube ich auch weiterhin an die Zukunft der Formel 1.“
Nun waren Sie selbst jahrelang im GT-Sport unterwegs, wie auch die Dörr Group mit Dörr Motorsport. Was haben Sie von damals als Learning für Ihre heutige Arbeit mitgenommen?
„Jede Serie ist für sich individuell und hat ihre eigenen Regeln. Deshalb sind sie auch nur schwer miteinander vergleichbar. Aber ich schätze, die Grundelemente sind überall gleich. Für mich waren schon immer klare Strukturen und Verantwortlichkeiten wichtig. Ich hatte in meiner Laufbahn das Glück, dass ich immer Chefs hatte, die mich unterstützt und mir gleichzeitig genug Freiheit gegeben haben. Nur so kannst du zeigen, was du kannst, und es macht Spaß, jeden Tag aufs Neue einen Beitrag leisten zu wollen. Genau das versuche ich auch jetzt bei McLaren mit meinem Team umzusetzen.“
Sie kennen Rainer Dörr persönlich. Wie beurteilen Sie das Engagement von Dörr Motorsport, die mit zwei McLaren in der ADAC GT4 Germany aktuell fahren und als Ziel GT3 haben?
„Rainer ist definitiv ein Racer, und das hat er auch an seine Söhne weitergegeben (lacht). Die GT4-Klasse ist sehr professionell und anspruchsvoll und vor allem richtig harter Zweikampf. Rainer ist ein alter Hase im Motorsport, und er kennt das Geschäft, trotzdem verlangt so ein Engagement einiges an Budget und Zeit. Das macht man nicht so nebenbei. Da muss man schon mit Herzblut dabei sein und nicht nur das Geschäftliche im Blick haben. Diese Einstellung finde ich super. Formel 1 ist die DNA unserer McLaren-Straßenfahrzeuge. Für mich gehören Supersportwagen und Motorsport einfach zusammen.“
Was kann Dörr Motorsport von McLaren Racing lernen?
„Never give up (lacht).“
Die Dörr Group hat mit dem Home of Speed by Dörr Group am Hockenheimring einen Startplatz für Auto- und Rennsportbegeisterte geschaffen. Werden unsere Kunden Sie dort mal persönlich an der Rennstrecke treffen?
„Ich hatte ja im vergangenen Jahr die Möglichkeit, während des Hockenheim-Rennens an der Eröffnung teilzunehmen. Die Idee ist einfach großartig für alle rennsportbegeisterten Kunden und Fans. Leider ist meine freie Zeit gerade ziemlich knapp. Aber mich kann man bei jedem Formel-1-Rennen treffen (lacht).“Wir werden Ihnen definitiv über die Schulter schauen. Vielen Dank für dieses offene Gespräch und Ihre Sicht auf die Dinge. Wir wünschen Ihnen eine erfolgreiche Saison und sind gespannt, wer Ende des Jahres zu den drei Topteams zählen wird.
Steckbrief Andreas Seidl
- Geburtsdatum: 06.01.1976
- Geburtsort: Passau
- Wohnort: bei München
- Aktueller Job: Teamchef McLaren F1 Team
- Vorherige Boxenstopps: Porsche (LMP1 Director of Race Operations, Teamchef), BMW (DTM und Formel 1), Diplom in Maschinenbau
Das Interview wurde Anfang 2020 geführt und im Kundenmagazin der Dörr Group, „Pit Lane, das Motor-Magazin vom Team Dörr“ veröffentlicht.