Amiel Lindesay: „Haben alle vor der Saison gesteckten Ziele erreicht“
Mit dem Berlin E-Prix ist in der vergangenen Woche die sechste Saison der ABB FIA Formel-E-Meisterschaft 2019/2020 zu Ende gegangen – und zugleich die erste für das TAG Heuer Porsche Formel-E-Team. Amiel Lindesay, Einsatzleiter Formel E, war seit der Bekanntgabe des Engagements von Porsche maßgeblich daran beteiligt, den Einstieg des Werksteams in die Formel E vorzubereiten. Im Interview zieht der Neuseeländer Bilanz und lässt die Highlights aus den vergangenen Monaten Revue passieren. Außerdem spricht er über die Erkenntnisse aus dem ersten Jahr in der Formel E und gibt einen ersten Ausblick auf die kommende Saison.
Die erste Saison für Porsche in der ABB FIA Formel-E-Meisterschaft ist beendet. Wie fällt Ihr Fazit aus?
„Das Fazit fällt sehr positiv aus. Als Rookie-Team ist es uns gleich im ersten Rennen gelungen, aufs Podium zu fahren. Und das in einer Meisterschaft wie der Formel E, in der es unglaublich eng zugeht. So etwas schafft man nicht nur mit harter Arbeit, sondern es ist das Ergebnis einer starken Teamleistung. Wir haben unser gesamtes Wissen aus unterschiedlichen Bereichen genutzt und uns dieser Herausforderung gestellt. Innerhalb kürzester Zeit haben wir sehr viel gelernt – und tun das auch weiterhin. Ich denke, wir haben unter Beweis gestellt, dass man mit uns rechnen muss. Und wir haben alle vor der Saison gesteckten Ziele erreicht.“
Abgesehen von den Podestplätzen in Diriyah und Berlin – was waren Ihre persönlichen Highlights in dieser Saison?
„Die Pole Position in Mexiko-Stadt war ganz besonders für mich. Das Rennen von ganz vorne zu starten und das eigene Auto vor 23 anderen zu sehen, das war ein sehr bewegender Moment. Diese Qualifying-Bestzeit hat uns allen nochmal einen zusätzlichen Schub verliehen und die Gewissheit gegeben, dass wir ein starkes Auto haben.“
Die erste Saison war vor allem auch als Lehrjahr gedacht. Welche Erkenntnisse ziehen Sie persönlich und das gesamte Team aus den vergangenen elf Rennen?
„Natürlich war unsere Premierensaison als Lehrjahr gedacht, gleichzeitig ist es im Motorsport aber auch wichtig, immer Fortschritte zu machen und nicht stillzustehen. Man muss hungrig bleiben. Was wir in diesem Jahr gelernt haben, ist einfach auf den Punkt zu bringen: das Racing in der Formel E. Natürlich hatten wir vorab getestet, aber nichts kann dich zu 100 Prozent auf ein Rennen vorbereiten – nur die Realität. Die Messlatte beim Testen legt man sich selbst. Entsprechend schwierig ist es zu wissen, wo man tatsächlich steht. Das gilt vor allem auch für das Energiemanagement.“
Was ist an der Formel E so speziell – und was hat Sie persönlich besonders überrascht?
„Die Formel E ist eine einzigartige Meisterschaft mit einem Format, das dich belohnt, wenn du einen guten Job machst. Umgekehrt werden aber auch kleinste Fehler knallhart bestraft. Die Renntage sind sehr kompakt und intensiv. Umso wichtiger ist es, dass die Abläufe reibungslos funktionieren. Man muss in der Lage sein, sich schnell anzupassen, wenn man auch nur minimal außerhalb des richtigen Fensters unterwegs ist. Ich denke nicht, dass mich etwas überrascht hat. Wir alle wussten, dass es schwierig sein würde, und haben versucht, die Abläufe bei den Tests so gut wie möglich zu simulieren. Die vielleicht größte Überraschung waren die großen Schwankungen der Teams von einem zum anderen Rennen. Es war klar, dass das beständigste Team am Ende ganz oben stehen wird. Aber die Unterschiede, die wir manchmal sogar innerhalb einzelner Teams gesehen haben, waren teilweise sehr groß und nur schwer zu erklären.“
Welcher E-Prix der vergangenen Saison hat Ihnen am besten gefallen? Und warum?
„Diriyah hat am meisten Spaß gemacht, weil es das war, worauf wir alle gewartet und wofür wir getestet hatten. Platz zwei im ersten Rennen war einfach überragend und einer dieser Motorsport-Momente, die man sein Leben lang nicht mehr vergisst. Man erinnert sich an die Anspannung, die sich vorher über eine ganze Zeit hinweg aufgebaut hat. Dann schaltet die Ampel auf Grün, und es ist ein fantastisches Gefühl, ein Teil davon zu sein. Aber das war nur der Anfang.“
André Lotterer hat mehrmals gezeigt, dass er um den Sieg mitfahren kann. Wie sehen Sie seine Chancen für die kommende Saison und was erwarten Sie von ihm?
„André ist einer der schnellsten Fahrer in der Formel E und hat das auch in dieser Saison für uns gezeigt. Er kam von einem Team, das die Fahrer- und Team-Meisterschaft gewonnen hatte. Das hat den Wechsel für ihn und uns natürlich nicht immer einfach gemacht. Trotzdem hat André sich schnell auf das neue Umfeld eingestellt und das Team konnte von seiner Erfahrung profitieren. Das kann man gar nicht hoch genug bewerten. Ich denke, André ist als Fahrer reifer geworden und ist die Rennen sehr kontrolliert angegangen. Gemeinsam sind wir gewachsen, und in Berlin hat er ein Selbstbewusstsein entwickelt, das nicht nur in bestimmten Rennrunden da war, sondern permanent. Er bringt alles mit, um Rennen zu gewinnen. Insofern freuen wir uns sehr auf Saison 7. Das Team möchte genauso wie André Siege feiern. Ich glaube, im kommenden Jahr können wir um die Meisterschaft kämpfen – auch wenn einige der Strecken neu für uns sein werden, nachdem sie wegen der Corona-Pandemie in diesem Jahr nicht gefahren wurden. Mich hat sehr beeindruckt, dass wir für fast jede Strecke richtig vorbereitet waren. Das zeigt, dass die Arbeit im Simulator zu Hause in die richtige Richtung gegangen ist. Das macht uns zuversichtlich für die neuen Strecken im nächsten Jahr. Dennoch muss man natürlich im Hinterkopf behalten, dass manche Teams fünf oder mehr Jahre Erfahrung auf diesen Strecken haben, die uns fehlt.“
Wie lautet Ihr Fazit zu Neel Jani nach seiner ersten kompletten Formel-E-Saison?
„Neel war von Anfang an in die Entwicklung unseres Autos eingebunden und hat seine immense Erfahrung eingebracht. In den Rennen hat ihm dann in vielen Fällen die nötige Portion Glück gefehlt, um gute Ergebnisse mitzunehmen. Umso schöner war es, als für ihn in Berlin der Knoten geplatzt ist. Seine Super-Pole-Teilnahme und der starke sechste Platz waren die Belohnung dafür, dass er niemals aufgegeben und sich immer zu 100 Prozent in den Dienst des Teams gestellt hat.“
Mit der Verpflichtung von Pascal Wehrlein hat die Porsche-Familie ein neues Mitglied bekommen. Was erwarten Sie von ihm?
„Pascal ist ein extrem schneller Fahrer mit Formel-E-Erfahrung. Ich kann es kaum erwarten, ihn in unserem Porsche 99X Electric zu sehen. Pascal hat gezeigt, dass er in der Formel E ganz vorne mitfahren kann, und wir möchten, dass ihm das in Zukunft gemeinsam mit uns gelingt. Wir heißen Pascal herzlich in der Porsche-Familie willkommen und freuen uns auf eine erfolgreiche gemeinsame Zukunft.“
Was erwarten Sie in Sachen Performance des Porsche 99X Electric in der neuen Saison?
„Auf der Basis des Autos der Saison 6 haben wir in allen Bereichen hart gearbeitet, um Dinge zu verbessern und ein Auto an den Start zu bringen, das um die Meisterschaft mitfahren kann. Unsere Ansprüche sind hoch und wir schrauben sie immer noch höher. In diesem Jahr waren Podiumsplätze das Ziel. In der kommenden Saison möchten wir ein Fahrzeug und ein Team haben, das Rennen gewinnen und um die Meisterschaft mitfahren kann.“
Und was erwarten Sie genau von der Mannschaft?
„Wir möchten uns weiter verbessern. Wir möchten das Team sein, das es zu schlagen gilt. Wobei wir natürlich vollen Respekt vor der Konkurrenz haben. Das ist keine leichte Aufgabe, aber eine, der wir uns stellen.“
Auf welches Rennen der kommenden Saison freuen Sie sich am meisten?
„Das ist schwer zu sagen nach einer so kurzen Saison. Aber von den Rennen, bei denen wir schon einmal gewesen sind, würde ich Chile sagen. Nachdem unsere beiden Autos dort beim letzten Mal praktisch nach der ersten Runde nicht mehr im Rennen waren, wollen wir uns hier stark zurückmelden. Mexiko wird ein weiteres Highlight. Die Fans dort waren großartig und haben eine tolle Stimmung gemacht.“