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Sonstiges
04.04.2020

Alessandro Zanardi: „Wir können die Krise für uns nutzen.“

Weltweit stehen die Gesellschaften vor einer schwierigen und herausfordernden Situation. Nicht nur, weil in vielen Bereichen das Leben stillsteht und die Menschen zu Hause bleiben müssen, um eine weitere Verbreitung des Coronavirus zu vermeiden. Sondern auch, weil die aktuelle Lage vielen Menschen Sorge und Trauer bereitet. Jemand, der Erfahrung mit schwierigen Situationen hat, ist BMW Werksfahrer und Markenbotschafter Alessandro Zanardi (IT).

Mit seiner positiven Lebenseinstellung inspiriert er Menschen auf der ganzen Welt, auch in Krisenzeiten wie den jetzigen. Im Interview spricht Zanardi darüber, wie er seine Zeit zuhause in Norditalien verbringt, seinen momentanen Alltag und über das Positive, das ihm in schwierigen Zeiten helfen kann.

Alessandro, geografisch gesehen sind Sie in Italien mitten im Virus-Krisengebiet. Die erste und wichtigste Frage: Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie?
Alessandro Zanardi: „Uns geht es allen gut. Natürlich spüren auch wir die Auswirkungen dessen, was gerade passiert, aber unsere Gedanken und Gebete sind bei all den Leuten und Familien, die direkter gegen das Virus kämpfen. In all den Krankenhäusern, mit all den unterstützenden Menschen, den Pflegekräften, den Ärzten und so weiter. Wir haben das Gefühl, dass wir sehr viel Glück haben. Wir haben ein Haus, ich habe alle meine Trainingsgeräte hier, wir sind gesund – deshalb geht unser Gefühl, dass wir ‚leiden', nicht über ein akzeptables Maß hinaus.“

Können Sie beschreiben, wie Ihr Alltag im Moment aussieht?
„Als jemand, der noch sportliche Ziele vor sich hat, kann ich mich jetzt mehr auf mein Training konzentrieren. Natürlich hätte ich mir nie gewünscht, dass so etwas passiert, aber in allem stecken immer verschiedene Aspekte. Nicht alles ist immer nur negativ und nicht alles ist immer nur positiv. Aber für mich besteht der positive Aspekt darin, dass mein Telefon jetzt weniger klingelt und dass niemand mich bittet, irgendwo hinzukommen. So habe ich wesentlich mehr Zeit, meine Prioritäten nach der Reihenfolge zu ordnen, die ich will. Ich wache morgens auf und lege fest, um welche Uhrzeit ich trainieren werde. Ich plane also meinen Tag um mein Sportprogramm herum. Ich arbeite auch viel am Computer, ich bleibe beruflich mit den Leuten per E-Mail in Kontakt und bereite Sachen vor. Und bis vor Kurzem waren auch alle Vorbereitungen auf das wichtigste Ziel in diesem Jahr ausgelegt, was Tokio gewesen wäre. Nun muss ich natürlich alles überdenken, aber so, wie ich bin, werde ich kein Problem damit haben, ein neues Ziel zu finden, das ich anpeilen kann. Ich kann mich anderen Projekten widmen, und davon habe ich viele.“

Aber eines Ihrer Ziele und Projekte ist jetzt Tokio 2021?
„Nun, in meinem Alter entspricht aus sportlicher Sicht jedes Jahr einem Hundejahr, es ist wie sieben Jahre. Es ist schon eine Art Wunder, dass ich mir zum Ziel setzen konnte, kurz vor meinem 54. Geburtstag in Tokio anzutreten. Es wird noch schwieriger, dies ein Jahr später zu tun, wenn ich auf die 55 zugehe. Aber eines kann ich Ihnen mit Bestimmtheit sagen: Was meinen Willen angeht, bin ich perfekt. Wenn es dann darum geht, diesen Willen in Erfolge umzusetzen – das wird die Zeit zeigen, wir werden sehen.“

Kehren wir zurück zur aktuellen Situation: Ist die Isolation eine Herausforderung?
„Ich muss sagen, dass ich vollstes Vertrauen habe in die Wissenschaftler, die das Problem studieren, und wir müssen ihnen glauben. Wir müssen selbst so gut helfen, wie wir können, und das bedeutet, jetzt zuhause zu bleiben und zu versuchen, eine weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern. Denn jetzt lernen wir, dass die Zahl der Infizierten vielleicht zehn Mal so hoch ist, wie wir noch vor ein paar Tagen dachten. Das liegt daran, dass nicht die gesamte Bevölkerung getestet wurde. Und es gibt viele Leute, die vielleicht infiziert sind, ohne dass sie es merken, weil sie keine Symptome haben. Das sorgt für viele Bedenken, und der einzige Weg, wie man schlimme Folgen verhindern kann, ist sicherzustellen, dass alle zuhause bleiben und die Ausbreitung des Virus so eingedämmt wird. Auf der anderen Seite haben wir in der überwiegenden Zahl der Fälle Kräfte in unserem Körper, die gegen den Virus kämpfen und diesen Kampf gewinnen können, so wie das bei anderen Virusinfektionen der Fall ist. Wir müssen also abwarten, wir müssen den Leuten vertrauen, die im Moment das Virus an vorderster Front bekämpfen, und einfach die Regeln befolgen, die die einzelnen Regierungen ihrer Bevölkerung vorgeben – so einfach ist das.“

Sie waren Ihr ganzes Leben lang ein Kämpfer, vor allem auch nach Ihrem Unfall. Heute sind Sie eine Inspiration für viele Menschen. Basierend auf Ihrer Erfahrung: Gibt es etwas, was sie Ihren italienischen Landsleuten und dem Rest der Welt in diesen schwierigen Zeiten mit auf den Weg geben möchten?
„Zunächst möchte ich sagen, dass die Tatsache, dass ich im Laufe meines Lebens mit einigen schwierigen Situationen kämpfen musste, nicht bedeutet, dass mir diese Art Kämpfe Spaß machen (lacht). Ich würde Probleme lieber vermeiden. Aber: Immer, wenn du in deinem Leben ein Problem bewältigst, ist das eine Erfahrung, für die du neue, sagen wir Werkzeuge, entwickeln musst. Und wenn du diese Erfahrung hinter dir gelassen hast, können diese Werkzeuge vielleicht ein Teil deines Repertoires bleiben und dir helfen, weitere Probleme zu überstehen, die auf deiner Lebensreise unvermeidbar auf dich zukommen werden. Und ich kann beobachten, dass die Menschen bereits anders geworden sind. Ich kann beobachten, dass sie Dinge wiederentdecken wie den Sinn für Gemeinschaft, den Sinn für Freundschaft, den Sinn dafür, sich gegenseitig zu brauchen, um wirklich komplette Menschen zu sein. Denn wir sind nichts, wenn wir unsere Gefühle nicht ausdrücken können. Es liegt also nicht so sehr an Leuten wie mir, eine bestimmte Botschaft auszusenden. Die wahre Hoffnung ist, dass die Leute ab nun eine bessere Fähigkeit entwickeln, nach solchen Inspirationen zu suchen, zuzuhören, sich auf andere zu verlassen und anderen zu erlauben, ihnen zu helfen. Denn das sind wir, und wir sind nichts ohne das alles. Dies ist der einzige positive Aspekt dessen, was gerade passiert. Wir müssen sicherstellen, dass jeder aus dieser Erfahrung etwas Gutes lernt, dass wir all dies mit besseren ‚Werkzeugen' hinter uns lassen, um in unserem Leben weiterzumachen und ein besseres Leben zu leben.“

Hilft Ihre positive Lebenseinstellung in solchen schwierigen Zeiten?
„Das ist für mich schwierig zu beantworten, denn wie ich schon eingangs sagte, weiß ich, dass ich einige Privilegien habe. Ich habe ein Haus, ich habe mein Holzhaus im Garten, in dem alle meine Trainingsgeräte stehen, ich habe eine tolle, gesunde Familie um mich herum, wir schauen viele Filme an, ich habe eine Menge Dinge zu tun. Die Einschränkungen, die ich im Moment erlebe, sind im Vergleich zu anderen Leuten also wirklich sehr gering. Aber gleichzeitig kann ich sagen: Die Gemeinsamkeit zwischen dem, wie ich diese Tage persönlich erlebe, und dem, was mir in einer anderen Phase meines Lebens passiert ist, ist die Fähigkeit, sich für die positiven Aspekte zu interessieren, die man immer in allem finden kann. Das hat mir ermöglicht, aus dem, was mir passiert ist, eine große Chance zu machen. Denn als ich meine Beine verloren habe, war ich, schon bevor ich herausgefunden habe, wo ich suchen muss und was ich finden kann, sehr zuversichtlich, dass ich im Geschehenen etwas Positives finden kann. Und das ist mir gelungen. Und was ich aus meinem Leben gemacht habe, beweist bestimmt, dass dieses Konzept immer zutrifft. Der positive Aspekt in den kleinen Einschränkungen, die ich im Moment habe, ist die Tatsache, dass das Telefon selten klingelt und ich nicht reisen muss – es sind sehr entschleunigte Tage. Und in dem vielbeschäftigten Leben, das ich normalerweise führe, genieße ich diese ruhige Phase, durch die ich gerade gehe, sogar etwas. Aber ich bin sicher, dass es noch sehr viel bessere Aspekte gibt, die wir, wenn wir neugierig genug sind, sammeln können, bewahren können oder als Ausgangspunkt für ein besseres Leben für uns alle nutzen können. Das Wichtige ist zum jetzigen Zeitpunkt, dass wir nicht in Panik verfallen und nicht ohne die richtigen Informationen unsere eigenen Entscheidungen treffen. Das Wichtige ist, als Gemeinschaft zu handeln und die Vorgaben, die wir bekommen, wirklich zu befolgen. Wenn der größte Tiefpunkt ist, dass wir noch einen weiteren Monat, oder zwei oder noch mehr Monate zuhause bleiben müssen – wir müssen damit umgehen lernen. Früher oder später wird die Sonne wieder aufgehen, und dann wird Zeit für andere Dinge sein. Doch nun ist wichtig, dass wir diesen Feind auf die richtige Art und Weise überwinden.“