24h Le Mans
24.05.2014
Ein Kraftwerk für den 24-Stunden-Marathon
In der WEC und in Le Mans bricht eine neue Ära an. Der Rennwagen ist Technologieträger und Testlabor für zukünftige Serienmodelle. Kein anderer Prototyp im WEC-Starterfeld verfügt über ein vergleichbar effizientes und komplexes Hybridsystem wie der neue Porsche 919 Hybrid.
Porsche steht bei der Rückkehr in die Topkategorie der Sportwagen-WM vor besonders anspruchsvollen Aufgaben. Erstens ist der neue 919 Hybrid der komplexeste Rennwagen, den der Sportwagenhersteller bis heute konstruiert hat. Zweitens konnte Porsche im Gegensatz zur Konkurrenz auf keinerlei Erfahrungs- oder Messwerten aus den Vorjahren aufbauen. Und drittens hat Porsche den Prototypen von eigenen Ingenieuren im zeitgleich neu gegründeten LMP1-Rennteam entwickeln lassen – ein ungleich schwierigerer, langfristig aber erfolgversprechenderer Weg, als bestehende Komponenten auf dem Markt einzukaufen. Dabei verfolgten Alexander Hitzinger, Technischer Direktor LMP1, und sein Team eine Prämisse, die bei Porsche Tradition hat: Lösungen finden, die in der Zukunft auch den Serienkunden zugute kommen können.
Die Suche nach dem optimalen Wirkungsgrad – also dem bestmöglichen Verhältnis von zugeführter und genutzter Energie – prägt jeden Aspekt des Porsche 919 Hybrid, die Aerodynamik des Le-Mans-Rennwagens ebenso wie die auf Leichtbau getrimmten Einzelkomponenten. Herausragend sind dabei die hochmodernen Energie-Rückgewinnungs- und Antriebssysteme. Das für die Saison 2014 revolutionär neu definierte Technikreglement der WEC ließ den Spezialisten von Porsche großen Spielraum. Limitierender Faktor für die Leistungsfähigkeit des Fahrzeugs ist in erster Linie die Kraftstoffmenge, die pro Runde zur Verfügung steht. Dieser Ansatz rückt die Energieeffizienz deutlich in den Vordergrund. Zugleich ist ein Hybridsystem für die in der LMP1-H-Kategorie startenden Werksautos verpflichtend. Welcher Art dieses ist und wie die wiedergewonnene Energie zwischengespeichert wird, stellen die Regelmacher den Konstrukteuren ebenso frei wie die Wahl des Motorkonzepts und des Hubraums.
Der 919 generiert in 24 Stunden Strom für über 4.500 Kilometer
Die Menge elektrischer Energie, die der Fahrer pro Le-Mans-Runde als sogenannten Boost zusätzlich nutzen kann, ist begrenzt. Das Reglement sieht vier Klassen von Energiemengen vor, die von 2 bis 8 Megajoule (MJ) reichen. Porsche hat den 919 Hybrid für die 6-Megajoule-Kategorie angemeldet. Damit darf der LMP1-Prototyp auf der 13,629 Kilometer langen Runde des „Circuit des 24 heures“ exakt 1,67 Kilowattstunden (kWh) Strom verbrauchen, da 3,6 Megajoule einer 1 Kilowattstunde (kWh) entsprechen. Doch was bedeutet das konkret?
2013 hat der Le Mans-Sieger 348 Runden absolviert. Über die gleiche Distanz betrachtet, erzeugt und setzt der neue 919 Hybrid 581,2 Kilowattstunden (kWh) ein – eine elektrische Leistung, die eine 60-Watt-Glühbirne ganze 9.687 Stunden lang leuchten ließe. Oder anders ausgedrückt: Mit der Energie, die der LMP1-Prototyp von Porsche während eines Le-Mans-Rennens rekuperiert, könnte das derzeit effizienteste Elektroauto in der Kompaktklasse, der neue Volkswagen e-Golf, 4.576 Kilometer zurücklegen – und damit zum Beispiel einmal quer durch die USA von New York bis nach Los Angeles reisen.
Thermodynamische Energierückgewinnung setzt Zeichen
„Die Rückgewinnung von kinetischer Bremsenergie an der Vorderachse besitzt aufgrund der dynamischen Achslastverlagerung beim Bremsen nach vorn besonders großes Potenzial, der Griff zu einem entsprechenden System war logisch“, erklärt Alexander Hitzinger. „Dafür haben wir auf ein KERS an der Hinterachse verzichtet. Wer mit einem Saugmotor startet, hat keine andere Wahl, dem bleibt nur diese Option. Durch die Verwendung der Turboaufladung bleibt uns aber noch eine andere Möglichkeit. Daher haben wir lieber auf die Nutzung der Abgasenergie des Turboladers gesetzt.“
Das Hybridsystem des neuen Le-Mans-Prototypen mit der Rekuperation thermodynamischer Abgasenergie ist einzigartig im Starterfeld der Sportwagen-WM. Hierbei tritt praktisch eine zusätzliche Turbinen-Generator-Einheit an die Stelle des so genannten Wastegates. Dieses Ventil lässt überschüssige Abgasenergie, die nicht zum Antrieb des Kompressors benötigt wird, ins Freie entweichen. Porsche nutzt dieses überschüssige Abgas: Es treibt eine zweite Turbine an und damit auch einen Generator, der elektrische Energie erzeugt. Die neue Technologie führt die bislang verlorene Energie jetzt wieder zurück. Dank der Abgasenergienutzung ist der Porsche 919 Hybrid das einzige Auto im Feld, das nicht nur beim Bremsen, sondern auch beim Gas geben Energie zurückgewinnt. Beide Systeme leiten in Strom umgewandelte Bewegungs- und Wärmeenergie an eine flüssigkeitsgekühlte Lithium-Ionen-Batterie weiter.
Gleiche Fahrleistungen, 30 Prozent weniger Verbrauch
Eigene Wege beschreitet Porsche auch, was das Speichermedium für die elektrische Energie betrifft. Hier galt ebenfalls: Anstelle zu weniger effektiven, aber auf dem Markt leicht erhältlichen Systemen zu greifen, fiel die Entscheidung zugunsten der vielversprechendsten Technologie – in diesem Fall flüssigkeitsgekühlte Lithium-Ionen-Batterien. „Entwickelt mit Porsche Engineering“, betont Hitzinger, „damit kommt das Knowhow künftigen Hybridfahrzeugen zugute.“ Hitzinger hat sich auch mit Schwungradspeicher und Ultracaps genannten Superkondensatoren befasst, hält die Lithium-Ionen-Akkus aber für den besten Kompromiss. „Allerdings nur dann“, schränkt er ein, „wenn hierfür die richtige Zellentechnologie zur Verfügung steht, um bei relativ hoher Speicherkapazität auch eine sehr hohe Leistungsdichte herauszuholen.“ Porsche vertraut dabei auf Batteriezellen seines Partners A123 Systems.
Ebenso eigenständig ist der Ansatz, den der LMP1-Chefkonstrukteur für den Verbrennungsmotor gewählt hat. Der neu entwickelte, für Porsche ungewöhnliche V4-Turbo mit zwei Liter Hubraum und Direkteinspritzung präsentiert sich als Vorreiter des Downsizings. Der Vierventiler bietet die optimale Schnittmenge zwischen niedrigem Gewicht und kompakten Abmessungen sowie struktureller Steifigkeit und hoher Leistungsausbeute. Da Porsche mit dem 919 Hybrid in der 6-MJ-Klasse startet, gesteht das Reglement dem über 500 PS starken Benziner einen Verbrauch von gerade einmal 4,79 Liter pro Le-Mans-Runde zu. Je leistungsstärker das Rückgewinnungssystem, desto weniger Kraftstoff darf verbrannt werden. Trotz ebenbürtiger Fahrleistungen sank die zulässige Energiemenge im Vergleich zum Vorjahr um gut 30 Prozent.
Le Mans: Extreme Technologie-Lösungen für besondere Anforderungen
Acht Rennen umfasst der diesjährige Kalender der FIA Sportwagen-Weltmeisterschaft WEC (World Endurance Championship). Nach den jeweils sechsstündigen Auftaktrennen im britischen Silverstone und im belgischen Spa-Francorchamps sticht WM-Lauf Nummer drei klar hervor: Die legendären 24 Stunden von Le Mans sind der Saisonhöhepunkt und eine einzigartige Herausforderung zugleich. Der 13,629 Kilometer lange „Circuit des 24 heures“ führt zu einem großen Teil – nämlich über neun Kilometer – über abgesperrte Landstraßen, über die für gewöhnlich der Berufs- und Schwerlastverkehr rollt und entsprechende Spurrillen im Asphalt hinterlässt. Charakteristisch für Le Mans sind auch die langen Geraden. Mehrmals pro Runde katapultieren sich die LMP1-Werksautos auf Geschwindigkeiten von deutlich über 320 km/h, gleich zweimal müssen sie anschließend an langsamen Abzweigen wieder bis auf Stadtverkehr-Tempo verzögern – bei Tag wie bei Nacht. Zugleich liegt der Volllastanteil um die 70 Prozent.
Harte Bremsphasen und langanhaltend kraftvolles Beschleunigen: Für diese speziellen Bedingungen hat Porsche den temporär allradgetriebenen 919 Hybrid mit seinen kinetischen und thermodynamischen Energierückgewinnungssystemen entwickelt. Eine maßgebliche Rolle für die Konkurrenzfähigkeit übernimmt in Le Mans aber auch die fein ausbalancierte Aerodynamik des Fahrzeugs. Ihre Abtriebswerte dienen in schnellen Passagen, etwa in den „Porsche-Kurven“, als Garant für immense Kurventempi. Dem steht ein möglichst geringer Luftwiderstand gegenüber, damit die 919 Hybrid auf den langen Geraden maximale Geschwindigkeiten erreichen.
Nach dem Rennsportfestival im französischen Departement Sarthe verabschiedet sich die WEC zunächst in eine gut dreimonatige Sommerpause und dann für den Rest der Saison aus Europa. Das Programm umfasst fünf weitere Sechsstundenrennen: USA (Austin, 20. September), Japan (Fuji, 12. Oktober), China (Shanghai, 2. November), Bahrain (Sakhir, 15. November) und Brasilien (Sao Paulo, 30. November).